1 SCHEINWERFER
Sie schaute auf die Uhr. Es war kurz nach Mitternacht und immer noch brütend heiß. Den Afrikanerinnen auf der anderen Straßenseite machte die Hitze wenig aus, sie waren daran gewöhnt. Zuhause in Vorderstadt gab es nur wenige Hitzetage und in der Nacht kühlte es meist merklich ab. Sie ging auf dem gelben Strich der seitlichen Straßenbegrenzung entlang, die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos machten ihre langen Beine noch länger, ihr Schatten zog sich wie ein Werbespot vor ihr her. Mit ihren roten High-Heels ging sie ohnehin wie auf Stelzen, die zehn Zentimeter hohen Plateausohlen waren gut fürs Geschäft und ein willkommener Puffer zwischen ihr und dem glühenden Asphalt. Sie war damit größer als die meist kleinwüchsigen Italiener, bei einer schnellen Nummer im Auto fiel das nicht weiter auf. Sobald sie aber ausstiegen, schauten die Freier zu ihr auf, wenn sie ihr überhaupt in die Augen sahen. Sie kramte in ihrer Handtasche. Chanel, Fake, rot - wie ihre Schuhe und Fingernägel. Marlboro light, mit drei Zigaretten musste sie heute Nacht noch auskommen.
Die meisten Autofahrer fuhren an ihr vorbei, manche bremsten ab oder fuhren etwas langsamer, um einen Blick der Schönen der Nacht zu erheischen. Es war nicht ihre Entscheidung gewesen, nach Rimini zu gehen. Die Versprechungen, die man ihr gemacht hatte, waren nur teilweise eingetroffen. Sie verdiente zwar in einer Woche fast so viel wie in einem ganzen Monat in Vorderstadt, allerdings war der Preis, den sie dafür zahlte, hoch und hieß Einsamkeit.
Ein „Steig ein“ riss sie aus ihren Gedanken. Mit so viel Besuch aus der Heimat hatte sie an diesem Wochenende nicht gerechnet. Sie stieg ins Auto und zündete sich eine Zigarette an.
„Was wollt ihr denn hier?“, fragte sie, ohne den beiden Männern einen Blick zuzuwerfen, „ich geh sicher nicht zurück, schon gar nicht zu dem alten Bock da hinten. Lasst mich wieder aussteigen, ihr seid umsonst gekommen!“, forderte sie den Fahrer nach wenigen Minuten zum Stehenbleiben auf. Sie stiegen aus.
Der Mann am Rücksitz blieb im Auto. Wortlos gingen sie zu einer der unzähligen Strandkabinen, in denen nicht nur die Prostituierten ihren Geschäften nachgingen. Die Scheinwerferkegel der vorbeifahrenden Autos verfolgten sie bis in die Kabine.
Als er zum Auto zurückkehrte, war er allein. Lediglich ein von einem nahegelegenen Parkplatz ausstrahlender Lichtkegel erhellte esin Fahrzeug.
2 SENSATIONSTRANSFER
Wie jeden Montag, seit er seine Gerichtspraxis vor fünf Monaten am Kreisgericht in Vorderstadt angetreten hatte, saß Ronnie Astlehner bereits seit einer Stunde am Schreibtisch beim Aktenstudium als sein Kollege zum Dienst erschien. Dieser hatte sich eine neue Ausgabe des österreichischen Erotikmagazins besorgt, um es in seiner gönnerhaften Manier dem Bürokollegen zur Verfügung zu stellen, damit - wie er zu sagen pflegte - die Stimmung und die Moral der arbeitenden Truppe gleich zu Wochenbeginn gehoben werde.
„Die Stimmung ist auch ohne dein Schundheft echt super“, schallte es ihm entgegen, hatte doch der SK Vorderstadt das Derby in der Fußball-Nationalliga gegen den Landstrasser SK klar mit 3:0 souverän gewonnen und damit die Tabellenspitze in der zweithöchsten österreichischen Spielklasse übernommen.
Überhaupt hatte sich die Stimmung in der Stadt gänzlich geändert. Wurde man noch vor kurzem als Krisenregion betrachtet, die einer ungewissen Zukunft entgegensah, so war seit Jahresbeginn eine Aufbruchsstimmung zu verspüren, die alle Bereiche des städtischen Lebens erfasste.
Wirtschaftlich führte die Ankündigung eines mächtigen deutschen Automobilkonzerns, massiv in den bereits bestehenden Standort zu investieren. Sollte Österreich der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beitreten, wolle man ihn zum Herzstück der Motorenproduktion machen.
Die Ankündigung weitere Ansiedelungsprojekte durchführen zu wollen, sorgte sowohl auf Stadt- als auch auf Landesebene für politische Freudensprünge.
Vorderstadt würde damit an seine glorreiche industrielle Vergangenheit, die vor über 150 Jahren mit der Gründung einer Waffenfabrik begonnen hatte, anschließen und in Zukunft seine Stellung als eines der wichtigsten industriellen Zentren der Republik noch weiter ausbauen können, so der allgemeine Tenor in der medialen Berichterstattung.
Positive Schlagzeilen fanden sich in diesen Tagen nicht nur auf den Politik- und Wirtschaftsseiten. Sportlich gelang dem lange in der Versenkung verschwundenen Traditionsverein SK Vorderstadt mit der Verpflichtung des sowjetischen Superstars Boris Kolodin der Sensationscoup im Europäischen Klubfußball. Als erster UDSSR-Kicker erhielt Kolodin ob seiner sportlichen Verdienste für die Sowjetunion die Freigabe, in den Westen zu wechseln. Zur allergrößten Überraschung zog es ihn nicht nach Madrid, München oder Manchester, sondern nach Österreich und hier nicht nach Wien zu einem der beiden führenden Vereine des Landes. Sein Transfer in die alte Eisenstadt und damit in die zweite Liga füllte die Schlagzeilen der Sportseiten in ganz Europa. Über die Hintergründe des Transfers und die Höhe der Ablösesumme wurde zwischen allen Beteiligten Stillschweigen vereinbart.
Für die Medien war das eine Einladung, verschiedenste zum Teil hochpolitische Spekulationen anzustellen. Die Mutmaßungen reichten vom bevorstehenden Ende der Sowjetunion, welche dringend ausländische Devisen benötige, um ihre Staatsgeschäfte weiterführen zu können, bis hin zu undurchsichtigen Kompensationsgeschäften, bei denen es um Waffenlieferungen, genauer gesagt die Lieferung von Sturmgewehren aus einer der renommiertesten heimischen Waffenfabriken an die UDSSR, ginge. Wiederholte Anfragen von Journalisten bis hinauf zum Verteidigungsministerium ergaben dazu aber keine näheren Informationen. Dennoch sickerten manche Details aus dem Spielervertrag, der eine feudale Villa in unmittelbarer Nähe zum Kreisgericht und einen PS-starken Sechszylinder aus bairischer Produktion enthielt, aus dem Umfeld des Vereins durch.
Beides ließ sich in der Arbeiterstadt schwer verbergen und sicherte dem neuen Bürger einen Status, der selbst bei seinen Nachbarn - allesamt angesehene Ärzte und Rechtsanwälte - in besagtem Viertel für Gesprächsstoff sorgte. Ebenso wie der Umstand, dass nicht nur vermehrt schwarze Luxuslimousinen mit durchtrainierten Insassen im Nobelviertel gesichtet wurden, sondern auch Polizeistreifen in Zivil ihren Dienst versahen. An den Wochentagen wäre dies nicht weiter aufgefallen - die Polizei ging am Kreisgericht aus und ein -, am Wochenende und vor allem an Sonntagen, führte dieser Transitverkehr zu vielen Gerüchten. Wurde Boris Kolodin etwa vom KGB beschattet? Oder war es die Staatspolizei, die auf den wertvollsten Bürger der Stadt, den man außer auf dem Fußballplatz so gut wie nie zu Gesicht bekam, besonders aufpassen musste? Für Verwunderung sorgten zudem die italienischen Kennzeichen auf den schwarzen Fahrzeugen, die Anlass zur Vermutung gaben, dass auch die Mafia beim Sensationstransfer die Hände im Spiel hatte. Die Partnerschaft des SK Vorderstadt mit dem AC Rimini passte da ebenso perfekt ins Bild wie der Umstand, dass der Chef der Staatspolizei eine wichtige Funktion im Präsidium des Traditionsklubs innehatte, dessen erklärtes Ziel es war, nach 30 Jahren wieder in die höchste Spielklasse der Republik aufzusteigen. Und die Chancen standen gut. Sehr gut sogar. In der als ‚Nationalliga` bezeichneten zweithöchsten Spielklasse hatte man eben die Tabellenführung vom Landstrasser SK übernommen, der wiederum knapp vor dem SK Eisen & Stahl und Tempo Tulln lag – allesamt Vereine an der Westautobahn. Kickers Neustadt, Austria Ried und Viktoria Villach komplettierten zusammen mit Alemannia Altach die Clubs der sogenannten Autobahnliga, so der inoffizielle Name dieses Bewerbs mit bester Anbindung an das hochrangige Straßennetz.
„Was steht diese Woche am Programm? Gibt es was Aufregendes oder sollen wir unsere kostbare Zeit wieder mit Schach und Backgammon totschlagen?“, sinnierte Dr. Karoly, mit 41 Jahren war er der älteste Rechtspraktikant, der je am Kreisgericht Vorderstadt eine Zuteilung, in seinem Fall zum diensthabenden Untersuchungsrichter, bekommen hatte, laut vor sich hin.
„Keine Ahnung, lass dich überraschen. Hast du schon gelesen, dass die Sowjetunion kein Veto gegen unseren Antrag auf Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft erheben wird. Sie haben zwar Bedenken wegen unserer Neutralität, aber offensichtlich sind wir ihnen nicht mehr so wichtig. Das hätte sich auch keiner gedacht, oder?“, machte sich der ebenfalls am Anfang seiner Gerichts- und Berufslaufbahn stehende Mag. jur. Ronald Astlehner so seine Gedanken zu den Schlagzeilen des Tages.
„Offensichtlich haben die Russen derzeit andere Probleme, nach dem Desaster in Afghanistan“, erwiderte Stefan Karoly, als er seinen Chef - Karoly war vor knapp einem Monat Untersuchungsrichter Dr. Frank zugeteilt worden - durch das Fenster beim Einparken erspähte. Sofort begab sich Karoly zwei Büros weiter in Richtung Haupteingang und stand bereits in der Tür zum Büro des Untersuchungsrichters, als dieser - vom ewigen Stauchaos der Stadt genervt - wieder einmal viel zu spät eintraf.
„Herr Dr. Karoly, tun sie mir bitte den Gefallen und fahren sie in die Justizanstalt. Es geht um die Zeugeneinvernahme eines Häftlings in der Sache Sansibar. Unsere neue Rechtspraktikantin Mag. Madersberger kann ich da ja nicht hinschicken oder was meinen Sie, Herr Kollege?“, lautete die erste Dienstanweisung für die neue Woche. „Natürlich nicht, ich mache das gerne, Herr Rat“, nahm Karoly diesen Auftrag freudig entgegen.
Stefan Karoly hatte nach seiner rechtskräftigen Verurteilung wegen Untreue, schwerem Betrug und Urkundenfälschung während seiner fünfjährigen Haftstrafe in einer unmittelbar an der Donau gelegenen Justizanstalt begonnen, Jus zu studieren und dieses Studium in Rekordzeit abgeschlossen. Um sich seinen neuen Berufswunsch als Rechtsanwalt zu erfüllen, hatte sich Stefan Karoly - so wie viele andere Absolventen der Juristerei - für ein einjähriges Gerichtspraktikum entschieden.
Mit seinem Vorstrafenregister, das neben anderen, auch den Tatbestand der leichten Körperverletzung auswies oder, wie er zu sagen pflegte, seine Karriere als oberösterreichischer Boxchampion im Junior-Weltergewicht abbildete, war dieses Unterfangen im Gegensatz zu unbescholtenen Universitätsabsolventen eher schwierig. Einige Oberlandesgerichte, bei denen der Antrag auf Absolvierung eines derartigen Praktikums einzubringen war, hatten sein Ansinnen unter Verweis auf seinen schlechten Leumund und kriminellen Werdegang abgelehnt. Dass sich aber ausgerechnet in seiner Heimatstadt der Traum vom Leben für die Justiz und die Gerechtigkeit zu erfüllen begann, verdankte Karoly seinen guten Beziehungen zum Vizepräsidenten des Kreisgerichts, den er regelmäßig in einem der bekanntesten Etablissements der Stadt, antraf.
Die Sansibar war eines der wenigen noch verbliebenen Bordelle in einer Stadt, die nach dem Krieg die höchste Dichte an Unterhaltungs- und Vergnügungslokalen aufgewiesen hatte. Um bösen Gerüchten vorzubeugen, wurde dem ehrenwerten Herrn Vizepräsidenten das Angebot unterbreitet, ein Foto, welches ihn in eindeutiger Pose mit zwei Schönheiten aus Osteuropa zeigte, gegen eine Intervention zu Gunsten Dr. Karolys einzutauschen. Somit ein klarer Fall von Nötigung gemäß § 105 Strafgesetzbuch, der allerdings ungeahndet blieb und Karoly zu seinem neuen Karrierestart in seiner Heimatstadt verhalf. Als einzige Auflage wurde ihm per Bescheid die Möglichkeit einer Laufbahn bei Gericht verwehrt, andere Berufsbilder wie jenes des Rechtsanwaltes oblagen der Entscheidung anderer Institutionen.
Die Causa Sansibar war bereits seit längerer Zeit polizei- und gerichtsanhängig. Mehrere Frauen, die in der Sansibar ihrem einschlägigen Gewerbe nachgehen sollten, wurden von Bekannten oder Verwandten als abgängig gemeldet …..
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